A. Kirchner: Emissär der jüdischen Sache. Eine politische Biografie Richard Lichtheims

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Titel
Emissär der jüdischen Sache. Eine politische Biografie Richard Lichtheims


Autor(en)
Kirchner, Andrea
Reihe
Schriften des Dubnow-Instituts
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lisa Sophie Gebhard, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam

Die Geschichte des deutschsprachigen Zionismus hat in den letzten Jahren das Forschungsinteresse vor allem jüngerer Historiker:innen aus Deutschland geweckt. Im Rahmen von Dissertationsprojekten sind mehrere biografische Annäherungen an einzelne Zionisten entstanden, die heute in Israel vergessen sind und anhand denen sich neue Erkenntnisse über den Frühzionismus jenseits der ausgetretenen Pfade gewinnen lassen.1 Andrea Kirchners erhellende Biografie über den Berliner Zionisten Richard Lichtheim (1885–1963) reiht sich hier ein. Nachdem sie 2022 bereits eine Quellenedition zu Lichtheim herausgegeben hat, widmet sie sich nun seinem politischen Lebenswerk.2

Kirchners Studie gliedert sich in vier Kapitel, die nach einer Einleitung chronologisch – von 1885 bis 1946 – durch das politische Lebenswerk von Lichtheim führen. Kapitel 1 „Lichtheims Weg zum Zionismus“ skizziert zunächst sein Elternhaus und frühes zionistisches Engagement. Wie die meisten deutschen Zionisten stammte er aus einem bürgerlichen jüdischen Umfeld, das in weiten Teilen akkulturiert und vaterländisch gesinnt war. So wurde an Weihnachten ein Tannenbaum aufgestellt, das Fleisch in Butter angebraten und die Synagoge allenfalls an den hohen Feiertagen besucht. Dieser „Assimilationsprozess“ war in der Familie Lichtheim besonders fortgeschritten. Lichtheims Engagement in der zionistischen Bewegung ab 1904, in der er sich mit Kurt Blumenfeld (1884–1963) und anderen jüngeren Zionisten in wenigen Jahren Schlüsselpositionen sichern konnte, lässt daher aufhorchen. Seinen Weg dorthin und seine Rolle im Umfeld dieser „post-assimilatorischen“ Mitstreiter, die den deutschen Zionismus prägen sollten, erläutert Kirchner nicht näher. Auch Lichtheims Herkunft wird in dem 13-seitigen Kapitel lediglich angerissen. Liest man Lichtheims ergiebige Autobiografie, mag dies verwundern.3 Für Kirchner war es dagegen eine bewusste Entscheidung, nicht den Privatmann Lichtheim, sondern sein Wirken als zionistischer Emissär gemäß einer politischen Biografie in den Blick zu nehmen (S. 25f.).

Lichtheims Tätigkeiten als Abgesandter der Zionistischen Organisation (ZO) leiten in das umfangreichere zweite Kapitel über, das den Titel „Ein erfolgreiches Kapitel jüdischer Diplomatie (1913–1918)“ trägt. Nachdem Lichtheim 1911 zum politischen Sekretär der zionistischen Leitung gewählt worden war und bis 1913 das deutschsprachige Zentralorgan der ZO redigiert hatte, wurde er mit 28 Jahren zum Vertreter der ZO-Leitung in Konstantinopel ernannt. In den Kriegsjahren kam ihm dort die wichtige Aufgabe zu, das jüdische Gemeinwesen in Palästina, den Jischuw, vor Übergriffen des türkischen Militärs zu schützen. Vor allem den Deportationsbefehlen des Generalgouverneurs von Syrien, Cemal Pascha (1872–1922), einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern, musste er strategisch begegnen. Lichtheim, der über keinerlei Erfahrung auf dem diplomatischen Parkett verfügte, gelang es dank seiner Begabung für politische Verhandlungen, die Unterstützung der Botschafter Deutschlands und der USA zu gewinnen und weitere Übergriffe auf den Jischuw abzuwehren. Lichtheim, so Kirchner überzeugend, trug als ein „Pionier zionistischer Diplomatie“ (S. 11) dazu bei, den politisch bedeutungslosen Zionismus im Ersten Weltkrieg zu einem gewissen Faktor der deutschen und US-amerikanischen Außenpolitik zu machen.

Während Kapitel 2 in der Quellenanalyse auf bestehende Forschungsliteratur zurückgreifen kann, darunter Egmont Zechlins Grundlagenstudie zur deutsch-jüdischen Interessengemeinschaft im Ersten Weltkrieg, baut das dritte Kapitel stärker auf bislang nicht ausgewertete Quellen auf.4 Im Kapitel „Revision der zionistischen Politik (1918–1939)“ gibt Kirchner am Beispiel von Lichtheim interessante Einblicke in den sogenannten Revisionismus, einer radikaleren Strömung im Zionismus. Bis 1932/33 stand Lichtheim an der Spitze des deutschen Landesverbands der „Revisionisten“, denen er sich 1926 angeschlossen hatte. Diese Gruppierung ist bislang von der Forschung nicht näher bedacht worden, auch weil sie in die Erzählung eines überwiegend auf Aussöhnung und Koexistenz bedachten deutschen Zionismus nicht passen will.5 Im Gegensatz zu pazifistischen Gruppen wie dem Brit Schalom ging es den Revisionisten um keinen binationalen Staat. Im Sinne einer Revision der bisherigen Palästinapolitik verfolgten sie die Schaffung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit in einem Staat, der auch Gebiete östlich des Jordans umfassen sollte. Das „maximalistische Territorialdenken“ (S. 123) dieser antisozialistischen Gruppe war dabei von dem Gedanken einer jüdischen Legion getragen. Kirchner schildert anschaulich Lichtheims Weg in den zionistischen Revisionismus, als dessen Spiritus rector Ze’ev Jabotinsky (1880–1940) gilt. Lichtheims Haltung zur „arabischen Frage“ ist hier besonders erhellend. So zeigt Kirchner, dass er die „Araber“ keineswegs ausklammerte. Angesichts ihrer demografischen Majorität blieben seine Visionen stattdessen an ihnen ausgerichtet, wobei er – anders als viele deutsche Zionist:innen – wie Jabotinsky an keine arabisch-jüdische Verbrüderung glaubte. Die Entwicklung des organisierten Revisionismus samt seiner Spaltung 1931, die Kirchner im Einzelnen rekonstruiert, bietet so einen anderen, aufschlussreichen Blick auf den deutschsprachigen Zionismus.

Das vierte und letzte Kapitel „Gestrandet in Genf: Versuche jüdischer Diplomatie während des Holocaust (1939–1946)“ schildert Lichtheims Tätigkeiten in der Schweiz, wo er von 1939 bis 1946 ein Verbindungsbüro der Jewish Agency (JA) leitete. Die Aufgabe des Büros bestand zunächst darin, Kontakte zwischen den Landesverbänden in Europa und ihren Leitungsbüros in Jerusalem, London und New York aufrechtzuerhalten. Neben einem Informationsdienst war das Büro zunehmend an Rettungsaktionen beteiligt. Mit seinem Organisationstalent half Lichtheim – im Rahmen stark begrenzter Möglichkeiten – unermüdlich verfolgten Jüdinnen und Juden. Seine mehr als 1.500 Briefe und Reports, die er aus Genf an das Jerusalemer Organisationsbüro der JA schickte, bieten dabei einen besonderen Quellenkorpus. Anhand dieser und weiterer Korrespondenzen schildert Kirchner eindrücklich die NS-Vernichtungspolitik aus der Perspektive eines jüdischen Zeitzeugen und Chronisten im nichtbesetzten Europa. Diese besondere Position Lichtheims, der sich selbst als „Noah auf dem Berg Ararat“ (S. 219) imaginierte, lenkt den Blick auf Rettungsversuche der JA, die nach 1945 häufig der Untätigkeit beschuldigt wurde. Seine frühen Warnungen vor einer millionenfachen Vernichtung jüdischen Lebens sind ein bewegendes Zeugnis für die zeitgenössische Wahrnehmung nationalsozialistischer Verbrechen.

Im Frühjahr 1946 kehrte Lichtheim zurück nach Palästina, wohin er bereits 1933 geflohen war. Wie andere Zionist:innen begrüßte er die Staatsgründung Israels, wenngleich seine territorialen Aspirationen enttäuscht wurden. Lichtheim hatte sich bereits in den 1930er-Jahren vom Revisionismus entfernt und war als offizieller Vertreter der Zionistischen Exekutive von David Ben-Gurion (1886–1973) nach Genf geschickt worden. Und doch zeigt der Epilog, dass er auch nach 1945 mit seinen revisionistischen Zielen nicht brach, sondern sie an die Nachkriegszeit anpasste. Lichtheims antisozialistische Haltung führte neben seiner unangepassten Art schließlich dazu, dass er keinen wichtigen Posten im jungen Staat besetzen konnte. Wie die meisten bürgerlichen Zionisten aus Deutschland geriet auch er bald in Vergessenheit. Ein politischer Außenseiter, wie Kirchner bilanziert, war der aus äußerst wohlhabenden Verhältnissen stammende Lichtheim zumindest bis 1923 allerdings nicht. Vielmehr hatte er mit anderen „post-assimilatorischen“ Zionisten die zionistische Bewegung in Deutschland geprägt und war trotz des Bedeutungsverlusts der deutschen Zionisten 1921 in die oberste Leitung der ZO gewählt worden. Mehrere seiner Schriften, für die ein Werkverzeichnis hilfreich gewesen wäre, galten zudem als zionistische Bestseller.

Lichtheim starb 1963 in Jerusalem ohne größere Würdigung. 60 Jahre später gelingt es Kirchner, seine Bedeutung für die Frühgeschichte des modernen Zionismus überzeugend herauszustellen und eine weitere Forschungslücke zu schließen.

Anmerkungen:
1 Frank Schlöffel, Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume, Berlin 2018; Dana von Suffrin, Pflanzen für Palästina. Otto Warburg und die Naturwissenschaften im Jischuw, Tübingen 2019; Albrecht Spranger, Theodor Zlocisti. Die multiplen Zugehörigkeiten eines Zionisten, Berlin 2020; Lisa S. Gebhard, Davis Trietsch – Der vergessene Visionär. Zionistische Zukunftsentwürfe zwischen Deutschland, Palästina und den USA, Tübingen 2022.
2 Andrea Kirchner, Von Konstantinopel nach Genf. Quellen zum Wirken Richard Lichtheims, Göttingen 2022.
3 Richard Lichtheim, Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus, Stuttgart 1970. Siehe v. a. das Kapitel „Von der Assimilation zum Zionismus“, S. 38–64.
4 Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969.
5 Eine wichtige Ausnahme bildet Francis Nicosias zweiteilige Aufsatzserie „Revisionist Zionism in Germany“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 31 (1986), S. 209–240 sowie 32 (1987), S. 231–267.

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